2019 konnte ich etwas besonderes tun. Ich habe meinen Papa zu seinem 80. Geburtstag auf einen Ausflug in das ehemalige Westpreußen eingeladen. Die Reise ging also nach Polen, ca. 70 km südlich von Danzig an der Weichsel. Sein Opa stammt aus Graudenz (heute Grudziadz). Dessen Vater aus Marienwerder (heute Kwidzyn) und dessen Vater sowie drei Generationen davor stammen aus Groß-Krebs (Rakowiec). Die Orte liegen recht nah beieinander. Hier ein kleiner Bericht zu der Reise:
Groß Krebs
Zu Groß-Krebs muss man sagen, dass der Ort immer noch ein kleines Dorf ist. Sicherlich etwas größer heutzutage, aber schon noch in der Anordnung, in der er sich zu Michael Gehdes, Erdmann Gehdes, Michael Gehdes (jr.) und Christian Gehdes Zeiten präsentiert hat, also der Zeit von etwa 1696 bis etwa 1842. Die Dorfkirche von etwa 1340 steht noch und weist noch das Holztonnengewölbe von 1725 auf, welches auch unsere Vorfahren erlebt haben.
Kirche mit Holztonnengewölbe
Sie ist heute natürlich inzwischen katholisch geweiht, aber im Gegensatz zu vielen anderen katholischen Kirchen nicht so prunkvoll ausgestattet, sondern eher noch protestantisch nüchtern. Es war wohl der Küster, den wir dort angetroffen haben, und er konnte ein paar wenige Worte deutsch. Er zeigte uns ein paar Steinplatten hinter dem Altar, die offenbar aus der Gründerzeit stammten. Wie alt die Orgel in der Kirche ist, konnte er uns nicht sagen. Etwa 100-200 Jahre meinte er, aber genau wusste er es nicht. Außerhalb der Kirche steht daneben auch offenbar das Gemeindehaus, in dem Friedrich II. genächtigt hat.
Kirche mit Gemeindehaus
Bei den Dorfhäusern, die sich entlang der Hauptstraße befinden (inzwischen auch mit zweiter Reihe, wo sich sonst das selbst bewirtschaftete Feld hinter dem Haus anschloß), hat man höchstens noch bei ein oder zweien das Gefühl, dass sie aus der Zeit unserer mehrfachen Urgroßväter stammen. Relativ nahe an der Kirche befindet sich der Friedhof, was eigentlich ein gutes Zeichen hätte sein können, dass wir die Gräber der ersten drei genannten Urgroßväter hier finden könnten. Die schlechte Nachricht ist die, dass der Friedhof relativ neu ist, und vermutlich nur Gräber ab dem Zweiten Weltkrieg beinhaltet. Die gute Nachricht ist die, dass der alte Friedhof sich direkt westlich (links) neben dem neuen befindet. Auch hier lautet die schlechte Nachricht wieder, dass er nicht gepflegt wird, nicht mehr umzäunt ist und die steinernen Gräberreste unter einer dicken Schicht Efeu nicht mehr zugänglich sind. Eine steinerne Grabplatte konnte ich mir genauer ansehen, und es sieht nicht so, aus als hätte eine Inschrift in diesem Material überdauert. Selbst wenn man sie freilegen würde, würden die einzelnen Grabstellen aus der Vergangenheit wohl nicht mehr zuzuordnen sein. Immerhin hat jemand in Groß-Krebs am Eingang des neuen Friedhofs eine Art Gedenkgrab mit polnischer und deutscher Innenschrift errichten lassen. Gemäß des Textes, soll dieser 1998 aufgestellte Stein den Toten der Deutschen Friedhöfe des Kirchenspiels Groß-Krebs gedenken. Eine nette Geste, wie ich finde.
Eingang alter Friedhof, neuer rechts |
Alte Grabstellen unter Efeu |
Alte Grabstelle unter Efeu |
Gedenkstein auf neuem Friedhof |
Ich habe mir auch die Gräber auf dem neuen Friedhof angesehen. So ein polnischer Friedhof ist im Vergleich zu einem deutschen sehr bunt, mit frischen Blumen versehen, sehr aufwendig mit teuren Grabplatten ausgestattet und viel besser gepflegt. Unter all den Gräbern fand ich aber nur eineinhalb Stellen, die an Nachnamen aus der Zeit des 18. Jahrhunderts erinnerten. Neben meinem Familienzweig gab es ja gerade in Groß-Krebs, historisch und statistisch betrachtet, die meisten Gehdes weltweit. Ein Gottfried Gehde heiratete in Groß-Krebs 1787 eine Ewa Baldowski. Und ein Christian Gehde heiratete in Klein Krebs 1794 eine Catharina Baldowski. Und auf dem neuen Friedhof gab es eben auch ein Grab eines Jerzy Baldowski (1937-2006). Und wenn Kopko eine polnische Version des Namens Kopp ist, der Name meiner Urgroßmutter Christina Kopp, dann lebt vielleicht auch noch ein Nachfahre von dieser Familie in Groß-Krebs. Insgesamt ist jedoch festzustellen, dass mehr als 95 % der Gräber nur sehr typisch polnische Namen aufweisen. Ein Hinweis darauf, dass die deutschen Vorfahren diese Gegend, vielleicht spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg, verlassen haben. Immerhin stimmten nach dem Ersten Weltkrieg noch 92 % der Bewohner von Marienwerder noch für den Verbleib im Deutschen Reich/in der Deutschen Republik. Das änderte sich wohl nach dem Zweiten Weltkrieg mit den Russen und den teilweise zwangsangesiedelten Polen.
Marienwerder
Unser letzter Vorfahre, der in Groß-Krebs geboren wurde, war Christian Gehde. Er zog spätestens zu seiner Hochzeit 1842 in die benachbarte etwa 6 km westlich gelegene größere Stadt Marienwerder. Dort hatten wir bei unserer Reise im Hotel Maxim auch unser Hauptquartier aufgeschlagen. Christian war im Gegensatz zu seinen Vorfahren kein Bauer, sondern wurde ein Instrumentenmacher, möglicherweise mit Spezialisierung auf Orgeln. Ob er etwas mit der Orgel in Groß-Krebs zu tun hatte, ist nach den Angaben des Küsters ja ungeklärt. Mit der Orgel im Dom von Marienwerder hat er jedenfalls nichts zu tun. Diese wurde 1864 von der Orgelbaufirma Wilhelm Sauer aus Frankfurt an der Oder gebaut. Vielleicht hat er die vorher dort befindliche Orgel aber instandgehalten. Der Dom wurde ab 1300 gebaut und mit seinem angrenzenden Schloss bzw. der Burg ständig umgebaut. Aber Christian muss diesen Dom gut gekannt haben, und hat ihn sicher selbst oft besucht. Mangels eines Adressbuches, oder eines passenden Eintrags im Kirchenbuch ist mir keine historische Anschrift von Christian und seiner Frau in Marienwerder bekannt. Es hätte aber vielleicht auch nicht viel genutzt. Es gibt kaum so etwas wie eine erhaltene Altstadt in Marienwerder. Nur vereinzelte Häuser aus der Zeit von 1810 - 1890 finden sich dort.
Haus von 1800
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Russen die bis dahin recht gut erhaltene Altstadt von Marienwerder in Brand gesteckt, um die Besitzer der Häuser, welches fast alles Deutsche waren, zu vertreiben bzw. nicht auf die Idee zu bringen zurückzukehren. Den Dom selbst verschonten sie, weil sie ihn als Pferdestall benutzt hatten.
Dom in Marienwerder
Das erzählte uns ein Pole vor Ort, der seit 20 Jahren in Deutschland lebt und seine Familie in Marienwerder besucht hat. So kann man sich nur in etwa beim Dom, bei ein paar erhaltenen Häusern in der Nähe und am Bahnhof ungefähr ein Bild machen, in welcher Umgebung Christian Gehde damals dort gelebt hat. Im Bahnhof hingen 2019 wegen einer derzeit laufenden Sanierung außerdem historische Fotos, die die alten Zeiten ein wenig widerspiegeln und auch die Bezeichnung Marienwerder tragen.
Im Dom, bzw. der Burg ist außerdem ein Museum untergebracht, welches allerlei zu Historie der Gegend zeigt. Seien es alte Fotos von Bauernhäusern aus der Gegend, als auch original Werkzeuge der Bauern zur Feldbestellung und zu anderen Arbeiten. Auch das hilft, sich ein wenig ein Bild von den Menschen, z. B. in Groß-Krebs zu machen.
Graudenz
Die letzte Station, die wir besuchten, war Graudenz, eine Stadt etwa 36 km südlich von Marienwerder. Christians, in Marienwerder geborener Sohn Adolph David Christian Gehde, zog spätestens zu seiner Hochzeit 1873 nach Graudenz. Auch er war Instrumentenmacher. Ein Adressbucheintrag als Stimmer könnte darauf hinweisen, dass er auf Klaviere spezialisiert war. Und dieser Adressbucheintrag führte uns dort auch direkt zu einem Haus, am heutigen Platz der Astronomieliebhaber. Die alte Adresse war Langestr. 9 direkt in der Graudenzer Altstadt. Wenn es keine Umnummerierung gab, dann ist es die heutige Dluga 9. Das ließ sich durch einen alten Stadtplan von 1900 so bestimmen. Die Graudenzer Altstadt steht zu einem großen Teil noch. Zu Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg soll es eher im südwestlichen Teil der Altstadt gekommen sein.
Graudenzer Altstadt von der Weichsel aus
Das Haus Dluga 9 ist im Endeffekt das Eckhaus zum Platz der Astronomieliebhaber. Ich bin zwar kein Architekturhistoriker, aber das jetzt dort stehende Haus könnte tatsächlich 1889, zum Zeitpunkt des Adressbucheintrages schon dort gestanden haben.
Eckhaus Dluga 9
Und das war für meinen Papa dann auch etwas Greifbares. Denn Adolph David Christians Sohn Arthur ist 1877 in Graudenz geboren, muss 1889 mit ihm dort gelebt haben, und ist schließlich dort groß geworden, in der Dluga 9. Und den Arthur, den kannte mein Vater noch persönlich. Es war ja sein Opa. Der Bummel durch die Altstadt war daher auch ein Blick in die Vergangenheit auf Gebäude, die schon mein Urgroßvater so gesehen hat. Große Teile stammen ja sogar aus dem Mittelalter, auch wenn sie zwischenzeitlich immer wieder zerstört und neu aufgebaut wurden.
Auf dem Rückweg nach Marienwerder durchfährt man kurz nach dem Ortsausgang von Graudenz einen Vorort namens Swierkocin. Auch hier haben wir kurz angehalten. Ungefähr 1909 ist Valerie Gehde, die Mutter von Arthur nach Graudenz zurückgekehrt, nachdem sie zunächst mit Arthur und seiner Frau nach dem Tod ihres Mannes in Berlin gelebt hat. Gemäß einer Eintragung in unserem alten Familienstammbuch zog sie wohl nach Tannenrode, wo sie 1919 an einem Herzinfarkt verstorben ist. Und dieses Tannenrode müsste das heutige Swierkocin sein. Es ist ein Dorf, bestehend aus zwei sich kreuzenden Straßen mit sehr wenig Häusern. Kaum ein Haus ist leichten Herzens auf eine Erbauungszeit vor dem Zweiten Weltkrieg zu datieren. Ein Friedhof existiert nicht. An der Kreuzung finden sich ein, zwei Geschäfte. Um ehrlich zu sein, in Tannenrode ist nichts zu sehen. Warum Valerie ausgerechnet hierhin gezogen ist, bleibt im Verborgenen.
Der Ausflug war sehr schön. Generell unterscheiden sich die Landschaften dort nicht so sehr von denen in Brandenburg, auch wenn dort mehr Felder mit Korn bestellt werden als in Deutschland. Die Straßen waren als Alleen ausgebaut und übrigens auch sehr gut. Die Orte vermittelten schon einen guten Eindruck davon, in welcher Umgebung unsere Urgroßväter vor 326 Jahren aufgewachsen sind und gelebt haben. Heute ist von den Deutschen, die dort einst lebten, nicht mehr viel übrig. Es gibt praktisch keine aus deutscher Zeit stammenden Denkmäler, die alten deutschen Familiennamen finden sich nicht mehr und auch sonst wird in Schriften (oder Beschriftungen z.B. an alten Häusern) die deutsche Vergangenheit kaum erwähnt, oder ist mißverständlich formuliert. Es sind nur die noch existierenden Bauten wie Kirchen und Teile der Altstädte, die still an diese Zeit erinnern. Es könnten die Russen sein, denen diese Ausradierungen zu verdanken sind, sowie der teilweise auch der polnischen Politik. In den ehemals ostpreußischen Gebieten war das wohl auch so, und soll sich gemäß eines Fernsehbeitrages vor kurzem gerade geändert haben. Die Polen, die wir in Marienwerder und Umgebung getroffen haben, waren alle ausnahmslos nett, und im heutigen polnischen Kernland ist eine Verständigung mit Händen und Füssen, sowie einigen Bruchstücken Englisch auch möglich gewesen. Die Rückstrecke führte uns dann, wie einst auch Arthur um das Jahr 1900 herum, nach Berlin.